Für viele Kinder aus dem damaligen Kreis Gardelegen war das Ferienlager Gager auf Rügen eine Gelegenheit, neue Erfahrungen zu sammeln und Abenteuer zu erleben. Die 14-tägige Ferienfreizeit war gut organisiert. Es wurden Ausflüge nach Sassnitz oder zum Kap Arkona unternommen. Ob mit Bus, Schiff oder auch zu Fuß – Hauptsache raus und etwas erleben. Dazu gehörten auch Wettkämpfe mit anderen umliegenden Betriebsferienlagern. Volleyball, Tischtennis, Fußball, die Betreuer sorgten auch für sportliche Begegnungen. Ein Highlight jedes Durchganges war das Neptunfest.
Das Highlight jedes Durchganges war das Neptunfest. Auch für Ellen Biermann. Die geborene Gardelegenerin, die heute in Niedersachsen lebt, fuhr das erste Mal 1985 als Siebenjährige nach Gager. Die Fahrt an die Ostsee gehörte anschließend viele Jahre zu ihrem jährlichen Sommerferienritual. Mit 16 Jahren begleitete sie die Durchgänge als Betreuerin. „Zu vielen, die ich damals kennenlernte, habe ich heute noch Kontakt“, erzählte sie. Sie war dabei ,als ihre Schützlinge den ersten Liebeskummer erleben, tröstete sie bei Heimweh und organisierte für sie die Abenteuer, die sie selbst als Kind erlebt hatte.
An das Neptunfest kann sie sich noch gut erinnern.
Es fand meistens kurz vor Durchgangsende statt. Wer getauft werden sollte, legten die Betreuer vorher fest, und es wurde ein großes Geheimnis daraus gemacht, erzählte sie.
Neptun und Nixen marschierten am Strand auf und der König der Meere platzierte sich stolz auf seinen Thron: ein aufgehäuftger Sandberg mit einer improvisierten Kuhle darin. Sein Aufzug machte den gewünschten Eindruck auf die Kinder. Ein weites Fischernetz bedeckte seinen Körper, eine Krone saß auf seinem Haupt und ein selbstgebastelter Dreizack, verlieh ihm königliche Würde. Ein Stilbruch war die knappe Badehose.
Die größeren und schnellsten Jungs waren die Häscher. Auch sie waren wild bemalt.
„Ich spielte immer den Barbier“, erinnerte sich Ellen Biermann. Nicht ganz uneigennützig, denn der Barbier wurde nie getauft! Fantasievoll bemalt stand sie neben König Neptun. Die Kinder saßen erwartungsvoll links und rechts in Reihe vor dem Meeresgott. Hinter ihnen standen die Häscher. Wurde ein Kind beim Namen gerufen, versuchte es wegzulaufen. Weit kamen sie meist nicht, denn die Häscher waren fix dabei und schleppten sie zurück zu Neptuns Füßen.
„Keiner entkam seinem Schicksal. Entwischte den Jägern mal ein Kind, wurde es später im Lager in der Regentonne „nachgetauft“, erinnerte sich Ellen. Der Barbier seifte den Täufling mit Sahne ein und „rasierte“ es anschließend mit einem Spielzeugholzmesser.
Nachdem Neptun den neuen Namen verkündet hatte, bekam der Täufling etwas zu trinken. Es war jedoch kein Taufwein. Man hatte ein Gebräu aus Ketchup, Senf, Marmelade und Milch oder Wasser vorbereitet. Es war einfach alles drin, was die Küche so hergab und das stank oft fürchterlich. Eklig, aber trinkbar – mit einer Kelle dieser Plörre wurde der neue Name runtergespült. Anschließend warfen die Häscher „Susi, die singende Seegurke“ oder „Thomas, den schreienden Seehund“ ins Meer.
Der Artikel erschien in der Stadtspiegel-Ausgabe 65 – Aug/Sep 24.
Mehr Erinnerungen an das Ferienlager Gager:
von Konrad Fuchs (Hier nachzulesen ab 14.1.25)
von Eva Wöllm (Hier nachzulesen ab 15.1.25)